Die Besprechung ist eigentlich Routine. In schneller Folge tragen die 15 versammelten Wissenschaftler aktuelle Daten über die globale Verbreitung von Influenzaviren zusammen. Von der Ankunft des neuen „pandemischen“ Erregers in Ruanda ist die Rede und dem Befall australischer Schweineherden.
Dann aber berichtet der Teamleiter von einer überraschenden Beobachtung: In China und anderen Ländern, wo sich die neue Variante des Virustyps H1N1 ausbreite, „gehen die Befunde mit H3N2 gleichzeitig schnell nach unten“, sagt er. Die Kollegen merken auf. Heißt das, die neuen Viren, Verursacher der weltweit verbreiteten Schweinegrippe, verdrängen die bisherigen, saisonalen Grippeviren, weil sie im Körper ihrer Wirte um den gleichen Platz konkurrieren? Werden damit die „pathogeneren“ Viren ausgerottet, diejenigen also, die mehr schwere Erkrankungen und Todesfälle verursachen? „Das wäre ja eine gute Nachricht“, sagt einer der Virologen.
Könnte die Schweinegrippe am Ende mehr Leben retten, als sie bedroht?
Der Teamleiter, ein amerikanischer Epidemiologe, mahnt zur Vorsicht. Für solche Schlussfolgerungen sei es „zu früh, das geben die Zahlen noch nicht her“, versichert er. Aber möglich sei eine solche Entwicklung schon.
Genf, am Mittwoch vergangener Woche. In einem Konferenzraum im Erdgeschoss des sechsstöckigen Betonriegels der Zentrale der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben die versammelten Grippeexperten soeben eine Grundannahme der größten Impfkampagnen aller Zeiten infrage gestellt. Die „neue Grippe“ muss keineswegs jene große Gefahr sein, vor der Regierungen in aller Welt seit Monaten warnen. Im Gegenteil: Sie könnte sogar mehr Menschen vor der bisher weit gefährlicheren saisonalen Grippe bewahren, als sie ihrerseits an schweren Erkrankungen erzeugt, bestätigt auch Hans Dörr, Professor für Virologie an der Uniklinik in Frankfurt am Main. „Denkbar ist das auf jeden Fall“, sagt Dörr, das sei kürzlich beim „Influenza-Kongress“ in Erfurt „auch schon so diskutiert worden“.
Warum aber mobilisieren dann die WHO und mit ihr mehr als 100 Regierungen für eine teure, globale Massenimpfung? Warum wurde die Verbreitung einer neuen Influenzavariante, die bisher nicht mal ein Zehntel jener tödlichen Erkrankungen verursacht, die auf das Konto der ganz normalen Wintergrippe gehen, zur gefährlichen „Pandemie“ erklärt? Handelt es sich am Ende gar um eine „Inszenierung, mit der die Pharmakonzerne schlichtweg Geld verdienen wollen“, wie Wolf-Dieter Ludwig, Chefarzt im Helios-Klinikum Berlin-Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, beklagt?
Wer Antworten sucht, kommt an der WHO und ihren Funktionären nicht vorbei. Hier, in einem Gebäudekomplex im UN-Viertel am Hang über dem Genfer See, laufen die Fäden des weltumspannenden Netzwerks zur Abwehr der vermeintlich tödlichen Grippewelle zusammen. Hier sind Fachleute aus aller Herren Länder schon seit 1999 damit befasst, den Ernstfall vorzubereiten. Um im Krisenfall handlungsfähig zu sein, wurden 2005 sogar eigens die „International Health Regulations“ beschlossen, die der WHO weitreichende Befugnisse einräumen. Seitdem dürfen die WHO-Mitarbeiter auf eigene Initiative Nachforschungen über neue Seuchen anstellen, und alle Regierungen sind auskunftspflichtig. Seitdem auch obliegt es allein dem WHO-Generalsekretär, die jeweils geltenden Warnstufen zu verkünden und die Mitgliedsstaaten zu den vereinbarten Gegenmaßnahmen aufzufordern. So war es am 11. Juni denn auch die amtierende WHO-Chefin Margaret Chan, die den Pandemie-Alarm auf die höchste Warnstufe anhob und damit von Australien bis Kanada den Start der nationalen Aktionspläne auslöste.
Die Vorstellung, all das sei von langer Hand vorbereitet, nur um die Interessen von Pharmakonzernen zu bedienen, erscheint erst einmal absurd. Schließlich hat die WHO 193 Mitgliedsstaaten und wird von einem 34-köpfigen Exekutivrat überwacht. Für Keiji Fukuda, den WHO-Topmanager für das Grippeprogramm, laufen derlei Vorwürfe darum auch nur unter der Rubrik „Verschwörungstheorie“. Man wisse eben nicht vorher, „wie schwer die Menschen erkranken werden, wenn sich ein neues Virus ausbreitet“, erklärt der US-Seuchenfachmann und wiederholt das Mantra der Grippewarner: Man müsse „die historische Erfahrung ernst nehmen“, dass selbst zunächst harmlose Virusvarianten wie einst nach dem Ersten Weltkrieg „später viele Millionen Menschen töten können“. Genauso argumentieren Gesundheitspolitiker in aller Welt, die ihren Bürgern die Impfaktion erklären müssen.
Aber die vielfach erklärte Befürchtung, das Virus werde in der Wintersaison womöglich mutieren und besonders gefährlich, hat sich während der kalten Monate in der südlichen Hemisphäre gerade nicht bestätigt. Australien zählte 118 Opfer der Schweinegrippe, während mit mehr als 1000 Todesopfern der saisonalen Grippe gerechnet wird. Ähnlich sind die Zahlen in Chile und Neuseeland.
Auch der Verweis auf die Historie ist mehr Dogma als exakte Wissenschaft. Denn die jüngere Geschichte der Influenzaviren weist genau in die andere Richtung. Das beschrieb bereits im vergangenen Juni ein Team des amerikanischen nationalen Forschungsinstituts für Infektionskrankheiten in einem Aufsatz für das „New England Journal of Medicine“. Der Pandemieerreger sei keineswegs völlig neu, schrieben die Forscher, sondern „ein Abkömmling in der vierten Generation des Virus von 1918“, der sich seitdem in einem ständigen Wettlauf mit dem menschlichen Immunsystem entwickele. Die „gute Nachricht“ sei, dass „diese Pandemien über die Zeit immer weniger schwer“ ausfallen, konstatierten die Virologen, und dies entspreche ja auch den Regeln der Evolution: „Ein Virus, das seine Wirte tötet oder ins Bett schickt“, sei schließlich „nicht optimal übertragbar.“ Je harmloser die Erkrankung, umso besser also nicht nur für den Menschen, sondern auch für das Virus. Ganz ähnlich warnte auch Peter Palese, Mikrobiologe an der Mount Sinai School of Medicine in New York und einer der Großen seiner Zunft, bereits im Juni vor übertriebenen Befürchtungen: „Die Gefahr ist nicht so groß, wie sie zu sein scheint.“ Es sei „unwahrscheinlich, dass sich das Virus zu einer extrem tödlichen Variante entwickelt“, mahnte er, zumal ihm genau das Protein fehle, das bei früheren Epidemien so fatale Wirkungen hatte.
Doch merkwürdig: Trotz all der unbestritten seriösen Einwände halten die WHO und die ihr verbundenen Impfstrategen aller Länder eisern an ihren Plänen fest und werden mindestens 20 Milliarden Dollar für eine Massenimpfung ausgeben, deren Nutzen unklar ist. Würde die gleiche Summe für die Eindämmung der saisonalen Grippe eingesetzt, könnten gewiss mehr Menschenleben gerettet werden. Geht es also doch um gut organisierte Interessen statt um Gesundheitsschutz?
Als Indiz dient vielen Kritikern etwa der Umstand, dass noch bis Anfang Mai die Website der UN-Gesundheitswächter eine Pandemie als Ausbreitung „eines neuen Influenzavirus“ definierte, „der zu weltweiten Epidemien mit enormen Zahlen von Toten und Kranken führt“. Genauso stand es auch in einem Handbuch der WHO von 2005. Doch parallel zur Ausrufung der zweithöchsten Warnstufe verschwand diese Beschreibung plötzlich von der WHO-Seite. Der britische Epidemiologe Thomas Jefferson erhob darum den Vorwurf, die Funktionäre hätten „eigens ihre Definition“ geändert, um endlich ihre über Jahre aufgebauten „Maschinerie“ in Gang setzen zu können.
Gestrichen worden sei lediglich eine „veraltete Formulierung“, meint dagegen WHO- Sprecher Gregory Hartl. Die offiziellen Richtlinien zu den Pandemiewarnstufen hätten sich stets nur auf die „geografische Verbreitung“ neuer Erreger bezogen. Auch Grippekoordinator Fukuda weist den Vorwurf der Manipulation zurück. Die Zahl von Schwerkranken oder Toten sei „kein klares Kriterium“ für die Ergreifung von Abwehrmaßnahmen, sondern allein die schnelle Verbreitung eines Virus, deren Konsequenzen man nicht abschätzen könne. Zudem seien die Pandemie-Warnstufen nicht willkürlich, sondern in einem Beratungsprozess mit mehr als 100 externen Fachleuten festgelegt worden.
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